Autor: Dieter Beck (Seite 6 von 6)

Liebe Tante Annemie,

auf der Insel hat ein Gockelhahn sein Leben ausgehaucht. Die Meldung war zwar am Rande notiert, macht aber dennoch nachdenklich. Der Hahn starb nicht auf die übliche Weise. Er wurde aus dem Hühnerstall gestohlen und dann erwürgt, weil er das getan hatte, was Hähne im Allgemeinen tun, er hatte gekräht. Er schritt morgens stolz aus seinem Stall, schüttelte sein Gefieder und krähte zu einer Zeit, in der Menschen gerne noch ungestört in den Federn liegen bleiben wollen.
Dem Hahn geschieht das eigentlich ganz recht! Schließlich müsste er wissen, dass wir nicht mehr auf dem Lande leben, wo Sau und Kuh ums Haus laufen, und dass unsere Gäste auch keinen Urlaub auf dem Bauernhof bestellt haben. Wenn trotzdem landwirtschaftliche Fahrzeuge in aller Herrgottsfrühe an der Ferienwohnung vorbeiknattern, ist das etwas ganz Anderes.
Wochenlang fahren erschreckte Feriengäste in der Morgendämmerung aus dem Schlaf, weil sie einen militärischen Angriff erwarten. Kein Angriff – kein Manöver! Ein kleiner Scherz der Winzer, die mit ihren Vogelschreckgeräten an den Hängen der Hochwart mit Donnerschlägen das Heranreifen der neuen reichenauer Weine ankündigen.
Und in diese uns Inselbewohnern so vertraute, mechanische Klangwelt erlaubt sich ein Gockel zu krähen. Dieses natürlich-tierische Geschrei! Das ist eine Unverschämtheit. Wie wohlklingend ist dagegen der Sound einer Moto Guzzi, einer urwüchsigen, zweirädrigen Sportmaschine, die uns nachts um halb drei ihren satten Zweizylinder-Gesang zu Gehör bringt. Und wie gerne lauscht man in einer Maiennacht dem lieblichen Surren eines echt gut frisierten Mopeds. Das sind Geräusche, die unser Ohr erfreuen.
Über die Insel mit Vollgas! Damit zeigen wir unseren Gästen, dass wir keine Hühnerstallbauern mehr sind, kein dem Fortschritt verschlossener Menschenschlag, wie es etwa nordische Inselbewohner sind. Wer immer dort schon Urlaub gemacht hat, weiß es längst. Weite Teile ihrer Inseln lassen diese für den öffentlichen Verkehr sperren. Aber die Möwen dürfen den ganzen Tag kreischen, das Meer darf sogar in der Nacht rauschen, der Wind pfeift über die Dämme, und die Schafe blöken, wann sie wollen. Doch zum Brötchenholen muss man in die Fußgängerzone laufen. Ein Wunder, dass es da vielen Urlaubern noch Spaß macht.
So weit wird es bei uns nicht kommen! – Oder doch?
Liebe Tante Annemie, sei herzlich gegrüßt von Deinem Neffen Dieter

PS: Schreit Dein Papagei immer noch so viel?

Veröffentlicht 1996

Liebe Tante Annemie,

auf unseren Inselspaziergängen fühlen wir uns jetzt von freundlichen Kommunal- und Landespolitikern beobachtet. Damit man sich ein Bild von den Landtagskandidaten machen kann, hat man ihre Konterfeis an Masten und Bäumen aufgehängt, wo sie jetzt vertrauensvoll nicht nur auf unser Land, sondern auch auf uns herunterschauen. In dieser Haltung möchten sie zum Ausdruck bringen, dass wir ihnen bei der Landtagswahl ruhig etwas ankreuzen können.
Doch ihr freundliches Lächeln vom Wahlplakat täuscht über die Sorgen hinweg, die sie sich in diesen Tagen vor der Wahl um sich und unser Land machen. Sie wissen, dass es mutige und verantwortungsvolle Menschen braucht, die die Kraft und den Glauben haben, so ein Land regieren zu können. Ihr Glaubensbekenntnis und das ihrer Partei erhalten wir frei Haus in Hochglanz-Faltblättern. Der Weg zum Erfolg ist darin aufgezeichnet: Es ist ein Weg der Stärke, aber auch ein Weg der Menschlichkeit, der uns ins gelobte Land führen soll. Und weil die Politiker selbst meist zu bescheiden sind, haben Werbefachleute die herausragendsten Eigenschaften für uns extra hervorgehoben, damit wir diese bis zur Wahl noch einmal nachlesen können.
Ja, Tante Annemie, es ist schon erstaunlich, wie sich vielbeschäftigte Politiker – sonst keinen Abend zu Hause – vor der Wahl an ihre Familie erinnern und sich für das Partei-Werbeblatt sogar mit ihren Enkeln ablichten lassen. Da kann es schon sein, dass der Landesvater, eben noch im neuen Gewerbezentrum die Technik preisend, gleich darauf leibhaftig im Stall des kleinen Milchbauern erscheint und der Kuh Resi über den Kopf streichelt.
Und so steigt auch die Kommunalpolitikerin werbewirksam in den „Seehas“, denn „es geht vorwärts – aber bitte ökologisch!“ Dabei vergisst die Betriebsratsvorsitzende eines bedeutenden mittelständischen Unternehmens am Bodensee für einen Moment, dass sie ihren Arbeitsplatz mit der Bahn gar nicht erreichen kann, und dass das bedeutende Unternehmen ohne privaten Bus- und PKW-Verkehr vieler zahlender Besucher nicht existieren könnte.
Da zeigt ein Landtagskandidat sein Programm „Bodensee 2000“, das die Region wettbewerbsfähig machen soll, aber bitte ökologisch und nicht so heftig wie im „Stuttgarter Raum“, dennoch mit gesicherten Arbeitsplätzen, mit einer soliden Werbung für die Region, trotzdem mit einem sehr sanften Verkehrsaufkommen und einem noch sanfteren Tourismus.
Ja, liebe Tante Annemie, machen wir uns also am Wahlsonntag auf den Weg und machen wir unser Kreuz. Es erfüllt uns nicht mit Begeisterung, aber wir haben keine andere Wahl.

Sei lieb gegrüßt von Deinem Neffen Dieter

Veröffentlicht 1996

Liebe Tante Annemie,

zuerst herzlichen Dank für Deinen Brief. Ja, in unserer modernen Zeit, in der man ununterbrochen telefoniert, faxt oder Nachrichten via Computer abruft, stehen wir beide mit unserem Briefeschreiben ganz schön altmodisch da. Doch Du hast mir ein Geheimnis anvertraut, das mich sehr gefreut hat. Durch meine Briefe, schreibst Du mir, wirst Du wieder an eine Zeit erinnert, in der Du noch Liebesbriefe erhalten hast. Ich kann mir vorstellen, dass sich nicht wenige Verehrer wegen Dir die Finger wund geschrieben haben. Heute bleibt den Liebenden oft gar keine Zeit mehr, ihre tiefen Gefühle auf rosarotem Papier zu versenden, da sie gleich eine gemeinsame Wohnung einrichten.
Ja, Tante Annemie, so versuchte ich auch etwas von Romantik in den Statistikdaten vom reichenauer Standesamt zu finden. Du wirst es sicher ahnen, es war vergeblich. Aber daran ist meiner Meinung nach nur der alte Leitz schuld, in dessen Ordnern jetzt alles bürokratisch-pflichtbewusst eingeklemmt wird. Der gemeine Bürger wird verwaltet und gelocht und befindet sich anschließend mit seinem Anliegen in der Klemme.
Nun wurde der reichenauer Bevölkerung bekanntgegeben, dass im vergangenen Jahr 37 Paare geheiratet haben. Die Gründe wurden nicht aufgeführt. Offensichtlich waren aber alle vorher schon verlobt, 78 Prozent sogar ledig, während bei 22 Prozent eine Vorehe registriert werden konnte. Die meisten Ehefrauen entschieden sich, den Nachnamen des Mannes zu tragen. Fehlerhaft zeigt sich die Statistik aber dort, wo nicht klar ersichtlich hervorgeht, wie viele Männer in Mischehen, die jetzt den Nachnamen der Ehefrau tragen, vorher ihren Wohnsitz außerhalb der Gemeinde hatten, und welcher Partner zwar nicht verheiratet, aber unter einer getrennten Namensführung in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit einem Partner zusammenlebte, der früher schon einmal auf der Reichenau wohnte, aber noch nie verlobt war.
So kann ich Dir auch nicht schreiben, ob die Nachfahren aus dem alten Fischergeschlecht der Keller etwa jetzt als Eheleute Hinerwadel weiterleben wollen. Auch die Olga, die Tochter von der Bichler Senzi, hat einen Mann geheiratet, von dem man nicht genau weiß, wo er herkommt. Beim Einkaufen hat jemand gesagt, es könne ein richtiger Ausländer sein, vielleicht käme er aber auch nur aus der Schweiz.
Du siehst, Tante Annemie, auch im Computerzeitalter weiß man nicht immer alles genau. Schon deshalb freuen wir uns hie und da wieder auf ein Schwätzchen, um dabei zu erfahren, welches Pärchen bald wieder heiraten wird – und wieso. Und das noch viel genauer als die Statistik!
Liebe Tante Annemie, jetzt stelle ich mir vor, wie Du dasitzt und die Briefe aus Deiner Jugendzeit auf dem Schoß ausgebreitet hast. Wenn Du sie liest, sollst Du dabei von vielen schönen Erinnerungen umarmt werden.
Das wünscht Dir Dein Neffe Dieter

Veröffentlicht 1996

Ein fast königlicher Duft

Vor kirchlichen Inselfeiertagen wird Lambert von Erinnerungen heimgesucht, bei denen er fast melancholisch wird.
Jetzt steht wieder so ein Fest an. Lambert schließt die Augen und sieht sich als Ministrant mit Anton Schniebel, seinem Schulkameraden, in der Sakristei des Münsters stehen. Der Schniebel ist damals Oberministrant gewesen.
Ein Obermessdiener weiß, wo der Messwein steht. Das allein genügt aber nicht, er muss sich auch zutrauen, die Flasche mit dem Rotwein aus dem Schrank zu nehmen, notfalls eine neue zu entkorken, um sie dann herumzureichen, damit jeder einen Schluck nehmen kann. Es bleibt nicht viel Zeit, der Pfarrer kann jeden Moment kommen, und dann ist auch schon der Mesmer fertig mit dem Anzünden der Altarkerzen.
Ein Schlückchen Rotwein ist für einen Ministranten sicher nicht verkehrt, um einen Gottesdienst einzuläuten. So ein Hochamt kann sich hinziehen, zumal die Gastprediger offensichtlich eine große Freude daran haben, sich ausgiebig am Feiertag zu beteiligen und eine lange Ansprache für angemessen halten. Da muss auch ein Ministrant wissen, worin seine Aufgabe besteht.
Also der Schniebel war damals Oberministrant mit dem ungeschriebenen Gesetz, wenn einer das Rauchfass schwingt, dann der Oberministrant. Er muss sich auskennen. Das kann nicht jeder Hansel machen. Da muss man auch mit dem, der den Weihrauch trägt und die Kohlen zum Glühen bringt, eng zusammenarbeiten. Das ist Vertrauenssache. Das ist wie im Geschäftsleben. Wer die Kohle hat, der kann mitreden.
Der mit der Kohle, das bin ich gewesen, denkt Lambert und sieht sich wieder in dieser verantwortungsvollen Aufgabe. Einiges ist abzusprechen. Wie viel soll man feuern? Wie viel soll man auflegen? Wie viel Luft darf man zuführen? Kann man dem alten Weihrauchkessel noch etwas zumuten? Halten alle Lötstellen? Aber die wichtigste Frage überhaupt ist doch: Zu welchem Zeitpunkt ist die Wirkung beim Publikum am größten? Da macht sich eben die langjährige Erfahrung bezahlt, die ein Messdiener bei den vielen Inselfeiertagen auf der Reichenau gemacht hat.
Der Schniebel ist erfahren in der Handhabung eines Rauchfasses und geboren für Rituale in einem Hochamt.
Er kommt am Morgen des Inselfeiertags zu Ehren des Heiligen Markus, des Inselpatrons, rechtzeitig in die Sakristei, nimmt noch einen Schluck Rotwein und zieht sich an. Dann nimmt er das Weihrauchgefäß vom Haken, prüft noch einmal die Sicherheit, indem er das noch leere Fass kräftig zum Schwingen bringt und sagt dann fast feierlich: „Jetzt wollen wir mal dem Fest das richtige Aroma geben.“
Da weiß auch Lambert, was zu tun ist. In das Rauchfass wird eine Kohle gelegt. Eine kleine, runde Scheibe, die vorher auf einem speziellen Gerät zum Glühen gebracht worden ist. Normalerweise wird in das Rauchfass eine Kohle reingelegt. Eine. Normalerweise. Der Schniebel sagt: „Der Bischoff ist da, also machen wir es heute ein bisschen feierlicher“. Er zieht den Deckel des Rauchfasses hoch und lässt sich von Lambert drei Kohlen auflegen.
Lambert trägt das Weihrauchschiffchen, ein edel gearbeitetes Gefäß mit Klappdeckel und einem silbernen Löffel, in dem sich die Harzkörner für das Räucherwerk befinden. Es ist gut gefüllt. Normalerweise genügen fürs Erste zwei Löffelchen von diesem Duftharz. Normalerweise. Der Schniebel kann rechnen und meint: „Wir haben drei Kohlen – da brauchen wir sechs Löffel.“
Als alle zum Altar schreiten, beginnt der Schniebel mit dem Schwingen. Jetzt fangen die Kohlen an aufzuglühen. Aus dem Fass hört man ein Knacken. Die Harzkörner schmelzen. Wenn der Schniebel von Aroma gesprochen hat, dann hat er nicht übertrieben. Es dauert nur eine knappe Minute, und alle stehen in einer prächtigen, weißen Wolke, die kurz verweilt und dann auf die ersten Bankreihen zu schwebt. Sie bringen Weihrauch und Myrrhe, heißt es bei den Heiligen Drei Königen.
Und der Schniebel versteht etwas vom Weihrauch Verteilen. In den ersten Bankreihen haben die Gläubigen Tränen in den Augen. Selbst erfahrene Ministranten melden kurzfristig Hochwasser. Den Neuen wird es schlecht, aber wie.
Es ist köstlich. Es ist hervorragend. Der Schniebel kann wirklich einem Hochamt die gebotene Würze geben. Da kann sich auch der heilige Markus nicht beklagen.
Der Bischoff hat sich nachher so geäußert: Er habe bei seinen Predigten noch nie so ergriffene Zuhörer gesehen wie auf der Insel Reichenau. Manche hätten sogar geweint.
Allein diese Äußerung hat den Münstermesmer damals wieder einmal davon abgehalten, den Schniebel und Lambert zu ohrfeigen. Sie haben es als Lob genommen.
Aber wie im richtigen Leben! Wenn man viel Kohle hat, muss man halt manchmal Dampf ablassen. Das gefällt nicht jedem.
Ja, so war’s.

Spitznagel möchte kein Aufsehen

Ganter hatte Emanuel Spitznagel seit Jahren nicht mehr gesehen. Jetzt traf er ihn auf dem Weg zur Post, die jetzt Agentur heißt und sich auf der Insel in einem Gärtnercenter niedergelassen hat.
„Du siehst blühend aus“, meinte Ganter zu Spitznagel, um etwas Freundliches zu sagen, weil es draußen regnete. Spitznagel ist Schriftsteller. Mitglieder dieser Berufsgruppe können bei Regenwetter leicht melancholisch werden, allerdings auch bei Nebel, Föhn oder anhaltender Trockenheit.
„Du wirst es nicht glauben“, sagte Spitznagel, „ich werde 75.“
„Ich kann es nicht glauben“, erwiderte Ganter.
„Ja, nächsten Monat.“
„Nächsten Monat schon?“
„Am Dreizehnten, aber ich möchte keine Aufregung um meine Person haben.“
„Aber du wirst doch feiern?“ fragte Ganter.
„Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass ein paar Leute vorbeikommen, die es erfahren haben.“
„Ich hätte es auch nicht gewusst“, sagte Ganter.
„Ich habe veranlasst, dass eine kleine Notiz im Reichenauer Amtsblatt erscheint.“
„Das war eine gute Idee von dir“, meinte Ganter.
„Und dem Bürgermeister habe ich es höflicherweise persönlich mitgeteilt.“
„Du hast es dem Bürgermeister gesagt?“ fragte Ganter ungläubig.
„Es musste sein“, meinte Spitznagel und betrachtete in Gedanken einen Rasenmäher.
Darauf hatte Ackermann, der Geschäftsführer des Gärtnercenters, anscheinend gewartet, denn er kam mit pressantem Schritt auf Spitznagel zu.
„Ich sehe, Sie interessieren sich für unsere Rasenmäher“, meinte er geschäftstüchtig. „Über die Preise kann man natürlich noch reden.“
„Wir stehen nur zufällig hier“, erklärte Ganter.
„Ich sehe schon“, sagte Ackermann zu Spitznagel, „Sie haben unseren Gonzo im Auge. Eine gute Wahl. Ein Mäher mit 43,8 cm Schnittbreite und integriertem Mulchblech vor dem Auffangsack. Wenn Sie ihn selber mitnehmen, könnte ich Ihnen einen Nachlass von 19 Prozent anbieten.“
Spitznagel versicherte ihm, das wäre ein gutes Angebot, aber er brauche keinen Gonzo mit Mulchblech. Er wäre nur auf dem Weg zur Post und hätte sich bei den Beetpflanzen verlaufen, denn das könne in seinem Alter schon einmal vorkommen, dass man in Gedanken sei, er werde ja jetzt schon 75, nächsten Monat am Dreizehnten, obwohl ihm das keiner glauben wolle.
Ackermann meinte daraufhin, das könne auch er nicht glauben. „Aber Sie haben immer noch ein sicheres Gespür für gute Rasenmäher.“ Und er verschwand.
„Siehst du“, sagte Spitznagel, „wem ich es auch erzähle, keiner kann es glauben. Selbst der Monsignore hat gestaunt.“
Ganter war sprachlos. „Du hast es sogar dem Pfarrer gesagt?“
„Bei der Osterbeichte.“
„Darf man so etwas – beim Beichten?“ fragte Ganter. „An einem Karfreitag?“
„Ich hielt es für meine Pflicht. Ich habe dafür die Verfehlungen, die die Fleischeslust betreffen, weggelassen.“
„Du hast wirklich …?“
„Ich wollte den Monsignore nicht beunruhigen.“
„Und was hat er gemeint?“
„Er sagte, dem Herrn kann man nichts vormachen.“
„Ich meine, was hat er zu deinem Geburtstag gesagt?“
„Er hat gesagt, wir werden alle nicht jünger.“
„Ja, der Monsignore ist ein gescheiter Mann.“
Spitznagel schaute hinüber zu den Geranien. „Keine Blumen!“
„Was für Blumen?“
„Falls du mir Blumen schenken willst.“
„Ach so, du magst keine Blumen?“
„Normalerweise schon. Aber ich werde nach meiner Geburtstagsfeier für ein paar Wochen nicht zu Hause sein – wegen der unteren Partie.“
„Wegen was für einer Partie?“
„Wegen meinem Kinn. Ich lasse mir eine Kleinigkeit korrigieren.“
Spitznagel packte mit beiden Händen sein Doppelkinn. „Das ist nachher alles weg.“
„Diese Korrektur, die wird bestimmt nicht billig.“
„Das kannst du aber laut sagen.“
„Das wird bestimmt teuer mit deinem Doppelkinn“, sagte Ganter so laut, dass sich alle im Gärtnercenter umdrehten.
„Nicht so laut“, flüsterte Spitznagel, „ich bin ja so froh, dass ich nicht eitel bin, sonst müsste es mehr sein.“
„Ein Glück, dass du nicht eitel bist.“
„Und wie alt bist du?“ fragte er Ganter.
„Ich bin 62 geworden“.
„62“, wiederholte Spitznagel. „Meine Güte, mit 62 da läuft noch einiges. Da ist man noch voller Tatendrang.“
Damit hatte er bei Ganter einen wunden Punkt getroffen. Aber wie! Denn das mit dem Laufen und dem Drang auf Taten, das hielt sich bei ihm alles in Grenzen, in ganz engen Grenzen. Und daran möchte er nicht erinnert werden.
„Was macht das Schreiben?“ fragte er Spitznagel, um von sich abzulenken.
Dieser hatte mit seinem Roman „Tomaten in Niederzell“ allerhand an Lob hören müssen.
Es ist eine Liebesgeschichte, die allerdings kein gutes Ende nimmt. Eine Reichenauer Fischertochter verliebt sich in einen Schwan, beide merken aber zu spät, dass ihnen eine eheähnliche Verbindung nicht beschieden sein wird.
Die Idee sei ihm gekommen, hatte Spitznagel in einem Interview erklärt, als er zum ersten Mal das Lied der Fischerin vom Bodensee hörte, in dem es heißt, dass ein weißer Schwan den Kahn der schönen Fischerin zieht. Das Lied erinnert an die stille Zeit am Untersee, wo es noch keine Außenbordmotoren gab und die großen Wasservögel sich noch nützlich machen konnten.
Die schwanverliebte, niederzeller Fischertochter reagiert auf die heftige Kritik aus der eigenen Familie, verlässt Niederzell und heiratet einen ertragreichen Gemüsebauern mit Bauplatz und eigener Erzeugernummer in Oberzell.
„Ich möchte an meinen letzten Roman anschließen“, erklärte Spitznagel. „Ich werde ihm den Titel „Gurken in Oberzell“ geben.“
„Großartig! Dir fällt doch immer etwas ein.“
„Weißt du“, ließ er Ganter wissen, „dass eine Verbindung der Familie Eichhuber in Oberzell zum Heiligen Georg besteht?“
„Was du nicht sagst!“
„Es drängt mich, diese Familiengeschichte einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.“
„Die Öffentlichkeit wäre sprachlos.“
„Ich darf auch den Drachen nicht unerwähnt lassen.“
„Du meinst den Drachen, den der Ritter Georg getötet hat?“
„Nein, ich meine den Drachen, der einmal Oberzell in Angst und Schrecken versetzt hat.“
„Aber in Oberzell gab es doch noch nie einen Drachen.“
„Das kann jeder behaupten“, meinte Spitznagel ärgerlich.
„Glaubst du nicht, dass du damit den einfachen Leser überforderst?“
„Gut, wenn du meinst, dann lasse ich den Drachen eben weg, aber die Blutsverwandtschaft der Eichhubers zum Heiligen Georg lasse ich mir nicht ausreden.“
„Wenn es der Wahrheit entspricht, dann musst du es schreiben.“
„Weißt du, wie viele Zweifel einen Schriftsteller anfallen können? Gerade auf der Reichenau? Die Leute sind nicht immer einfach.“
In diesem Moment kam Ackermann zurück.
„Herr Spitznagel, ich kann Ihnen eine erfreuliche Mitteilung machen. Ich habe die Vorstände unserer AG angerufen und alle waren sich einig, wir möchten Ihnen den Gonzo zum Geburtstag schenken.“
„Aber ich habe doch nur einen kleinen Balkon“, jammerte Spitznagel.
„Herr Spitznagel, das ist kein Problem. Den Gonzo gibt es auch mit einer Schnittbreite von 22 Zentimetern, das Mulchblech entfällt, und so hat auch der Kleingärtner ein handgerechtes Modell. Habe ich Ihnen schon gesagt, dass meine Frau ganz entzückt war von Ihrem Roman „Zucchini in Niederzell? Sie hat tagelang nur von dem armen Schwan geredet. Es war aber auch…“
Er wurde unterbrochen von dem Fräulein, das den Postschalter bedient. „Herr Spitznagel, ich habe gehört, Sie feiern bald Geburtstag. Ich habe gerade mit Herrn Scheuerle von der Oberpostdirektion in Karlsruhe gesprochen und ihm von Ihrem großen Garten erzählt. Er ist der Meinung, die Post schenkt Ihnen zu Ihrem Geburtstag zwei Spalierbäumchen.“
Spitznagel setzte sich auf einen Sack mit Hundefutter und hatte feuchte Augen. Soviel Anteilnahme hatte er nicht erwartet.
„Ja, was muss ich da hören, Herr Spitznagel? Sie haben Geburtstag?“
Es war Freifrau von Nierstein-Sanftleben, die Katzenfutter einkaufte.
„Ja, aber erst am Dreizehnten“, sagte das Fräulein von der Post.
„Herr Spitznagel freut sich schon“, erklärte Ackermann, „da bekommt er von uns den Gonzo, den er sich schon so lange gewünscht hat.
„Da werde auch ich mir mit meinen Canasta-Damen was einfallen lassen“, meinte die Sanftleben. „Sie wissen ja gar nicht, wie ergriffen ich von Ihrem „Kopfsalat in Niederzell“ war. Diese Tragödie mit dem Schwan!“
„Wie schön, dass ich Sie einmal persönlich treffe“, rief eine Frau aus Wollmatingen. „Wie ich gerade höre, haben Sie „Das Schwanenhaus“ geschrieben.“
„Nein, das war Martin Walser“, korrigierte die Nierstein-Sanftleben.
„Aber in Ihrem Roman kommt auch ein Schwan vor, gell Herr Spitznagel?“ fragte das Fräulein von der Agentur.
„Herr Spitznagel wird 75 und bekommt den Gonzo“, erklärte die Nierstein-Sanftleben.
„Ist das ein Buchpreis?“ erkundigte sich ein pensionierter Finanzbeamter und blieb mit seinem Einkaufswagen stehen.
„Herr Spitznagel kann leider das Mulchblech nicht verwenden“, sagte Ackermann.
„Dann schreiben Sie halt über etwas Anderes“, meinte die Frau aus Wollmatingen, „vielleicht wieder über eine große Liebe im russischen Winter.“
„Das war Pasternak mit Doktor Schiwago“, stöhnte Spitznagel.
Bis zur Mittagszeit war Spitznagel von etwa 200 Leuten umringt, die eigentlich nur etwas für Haus und Garten einkaufen oder zur Post wollten.
Man ließ Rasenmäher und Verkaufsgondeln wegräumen und dafür Stühle hinstellen. Die Post wurde vorübergehend geschlossen.
Spitznagel musste immer wieder von der Drachenplage in Oberzell erzählen und erläuterte die Verwandtschaftsverhältnisse der Eichhubers mit dem Heiligen Georg.
Trachtenmädchen schenkten Wein aus, die Canasta-Damen belegten Häppchen, und ein Mann von den Starlights hatte bunte Lampen aufgehängt. Zum Nachmittagstee spielte eine Seniorenband. In einer Pause sang Frau Nierstein-Sanftleben zwei Balladen.
Ackermann meinte, nun sei es aber an der Zeit, den Bürgermeister zu holen.
„Und den Monsignore auch“, sagte das Fräulein von der Post.
Das letzte was Ganter hörte – bevor er ging – war Spitznagel, der sich erhoben hatte und sichtlich gerührt sagte: „Wie Sie vielleicht erfahren haben, feiere ich nächsten Monat meinen 75. Geburtstag, genauer gesagt am Dreizehnten. Ich möchte Sie aber bitten, kein Aufsehen um meine Person zu machen.“
Vor dem Gärtner-Center regelte die Freiwillige Feuerwehr den Verkehr.

Nachtrag:
Der Arbeitskreis Kultur fordert Spitznagel-Wochen im Gärtner-Center.
Oberzell möchte, dass der Drache wieder heimisch wird.
Die Grünen fordern Versöhnungstage mit Schwänen.

In ruhigen Bahnen

Ganter sitzt bequem auf der Terrasse und schaut Wendelin zu, wie dieser den Rasen mäht. Die Kinder haben ihm diesen Namen gegeben, nachdem sie seine Manöver beim Umfahren eines Hindernisses beobachtet haben.
Wendelin ist ein Mähroboter und arbeitet nahezu selbstständig. Gelassen nimmt er kleine Steigungen, fährt klaglos über Unebenheiten und hat die Grenzen, die man ihm abgesteckt hat, ohne Murren akzeptiert.
Er ist kein Krachmacher wie ein Rasentraktor, dessen Mähgut man entsorgen muss und der ohne menschliche Hilfe keinen Grashalm in die richtige Länge bringt.
Wendelin macht seine Arbeit. Den Rasen trimmen. Halm für Halm. In einer ihm eigenen Gleichmäßigkeit und Ruhe. Mehr braucht er nicht zu tun, mehr will er auch nicht. Und er macht seine Arbeit gut.
Ganter sieht, wie Wendelin jetzt zur Ladestation fährt, um eine Pause zu machen und um sich neue Energie zu holen.
So sollte das Leben verlaufen, denkt Ganter. In ruhigen Bahnen. Und mit dem Vermögen, den Hindernissen des Lebens ohne Groll zu begegnen.
Und bei allem Herumsausen auch sehen, was man geschafft hat.
Und spüren, wann es Zeit für eine Pause ist.
Später träumt Ganter. Von einer herrlichen Blumenwiese.

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