Autor: Dieter Beck (Seite 5 von 6)

Grüne Bären – 3. In roter Seide

Der Mann, der an diesem Freitagmorgen das Spielwarengeschäft Weber betrat, hatte ein stark gebräuntes Gesicht, schulterlange graue Haare, trug ein weißes Hemd, eine weiße Leinenhose und weiße Sportschuhe. Er nahm sich im Eingangsbereich einen Einkaufskorb und ging rasch an den Verkaufsgondeln und Regalen mit den Puppen, Puppenbekleidung und kunterbuntem Schmuck für Kinderzimmer entlang und blieb bei den Plüschbären stehen. Was er wollte, waren Bären, die er nicht lange suchen musste. Sie waren grün, hatten alle die gleiche Größe und waren mit einer gelben Latzhose bekleidet. Auf ihrem Latz stand Otto Bär.
Der Mann nahm sechs der Bären aus dem Regal, legte sie in den Korb und ging zur Kasse. Mit diesem letzten Einkauf hatte er jetzt alle, die er benötigte, um bestimmte Leute zu überraschen.
Jetzt war es an der Zeit, die ersten versandfertig zu machen. Die Verpackungen lagen schon bereit. Es waren neutrale Schachteln aus festem Karton, gerade so groß, dass einer dieser grünen Otto Bären, in tiefblaues Seidenpapier eingehüllt, sitzen konnte. Ein Karton, der auf die Reise gehen sollte, war allerdings mit roter Seide ausgeschlagen. Das musste schon sein bei einem Geschenk für seine alte Liebe.

Fortsetzung folgt

Grüne Bären – 2. Otto Biller

Otto Biller hatte einen grünen Bären in die Produktion aufgenommen, dem Plüschtier eine gelbe Latzhose angezogen und ihn mit diversen Gartengeräten wie einer Schaufel, einem Spaten und einer Schubkarre ausgestattet, die man aber extra erwerben musste. Der Bär war exakt 37,5 Zentimeter groß und nur in dieser Größe zu haben, hatte schwarze Ohren und wurde unter dem Namen Otto Bär verkauft.
Und er verkaufte sich gut. Den grünen Bären als Gärtner sah man in jedem Kinderzimmer und im Kindergarten. Er erfreute als Dekoration alle, die sich in einem Seniorenheim aufhielten, und wurde wie selbstverständlich bei Omas und Tanten zum beliebten Mitbringsel.
Im Garten-Center saß er mit einer dunkelblauen Latzhose auf einem kleinen Traktor oder einem Rasenmäher, die motorisiert waren und mit einer Fernsteuerung bedient werden konnten. Während der Fasnachtszeit zeigte er sich im Gewand eines Elferratspräsidenten. Beim alljährlichen Wein- und Fischerfest wurde er wahlweise als Kellermeister oder Fischer verkauft. Immer war er grün, exakt 37,5 Zentimeter groß, und auf seinem Brustlatz stand mit einem schwarzen Faden gestickt sein Name: Otto Bär.
Sprechen aber konnte keiner von ihnen.

Fortsetzung folgt

Grüne Bären – 1. Ein Geschenk

Es ist ein nasskalter Oktobermorgen, als Magda Baumann, die Frau eines Fischers, vor die Haustüre tritt. Ihr Blick gilt zuerst dem Wetter. Nebelschwaden treiben über dem See, und im Westen zieht eine Schlechtwetterwand auf.
Als eine ihrer Katzen um ihre Beine streicht, und sie nach unten schaut, sieht sie, dass auf der unteren Treppenstufe ein Paket liegt. Sie nimmt es hoch und stellt verwundert fest, es ist an sie adressiert. Über ihrem Namen steht mit großen, roten Buchstaben zusätzlich „Persönlich“.
Sie trägt den Karton in die Küche, stellt ihn auf die Arbeitsplatte, schneidet die Klebebänder mit einem Küchenmesser auf und öffnet die Verpackung. Etwas ist mit viel blauem Seidenpapier eingeschlagen: ein Bär. Sie kennt die grünen Otto-Bären, die in verschiedenen Geschäften verkauft werden. Aber wer schickt ihr am frühen Morgen solch ein Geschenk, ohne Absender?
Magda Baumann hebt den Bären mit der gelben Latzhose aus der Schachtel und lässt ihn im selben Moment vor Schreck auf die Platte zurückfallen. Der Bär spricht. Kaum hat sie das grüne Püschtier berührt, fängt dieses an zu reden. Eine Stimme, die aus dem Bauch kommt, ein bisschen blechern und fremd, wie man es von einem Aufzeichnungsgerät kennt, aber dennoch laut und auch deutlich: „Ich wünsche dir einen guten Morgen, liebe Magda. Du darfst mich Glost nennen oder auch Wunderbär, weil sich noch viele über mich wundern werden.“
Erst jetzt bemerkt Magda, dass auf dem Brustlatz der gelben Hose nicht wie üblich Otto-Bär steht, sondern „GLOST“. Sie kann mit diesem Namen nichts anfangen.
„Ich möchte, dass du mich durch deinen Alltag trägst. Überall, wo du hingehst, möchte auch ich dabei sein. Vergiss auch nicht, mich mitzunehmen, wenn du den Biller Otto besuchst.“
Magda Baumann starrt auf den Bären, hat plötzlich sogar den Eindruck, der Bär schaue sie an, als ob er lebendig sei. Diese Glasaugen schillern so lebensecht. Sie sieht, wie die Pupillen sich bewegen.
„Ich freue mich, auch deinen Mann kennenzulernen“, hört sie den Bär sagen.
Jetzt verliert Magda Baumann gänzlich die Fassung. Was könnte dieser Bär ihrem Mann erzählen? Wer verbirgt sich hinter diesem Namen Glost? Weiß er von ihrer Affäre mit Otto Biller? Panisch packt sie das Stofftier, drückt es fieberhaft zurück in die Schachtel und schließt diese, damit sie seine Augen nicht mehr sehen muss. Aber sie hört noch immer seine Stimme: „Ich möchte, dass du mir alles …“
„Sei still“, schreit Magda. „Halt endlich dein blödes Maul!“
„…über den Otto…“, kommt aus der Schachtel.
Sie holt einen schweren, eisernen Fleischklopfer aus der Schublade und schlägt mit diesem auf die Schachtel ein. Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder.

Fortsetzung folgt

Bürgles Ratschläge

„Theo, darf ich dich mal was fragen?“ Max Schmidlin steht am Getränkeautomat und wartet, bis Theo Bürgle seinen Kaffee bekommen hat.
„Selbstverständlich, um was geht’s denn?“ Bürgle nimmt einen Schluck aus dem Plastikbecher und wartet, weil er merkt, dass sein Bürokollege sich nicht richtig traut.
„Glaubst du, meine Frau erwartet, dass ich ihr im Haushalt helfe?“ Schmidlin ist jetzt richtig verlegen.
„Hat sie dir deswegen Vorwürfe gemacht?“ fragt Bürgle und nimmt noch einen großen Schluck, damit Schmidlin Zeit zum Nachdenken bleibt.
„An Vorwürfe kann ich mich nicht erinnern. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, sie möchte es gar nicht. Ich meine damit, dass ich ihr in der Küche zur Hand gehe oder das Geschirr spüle.“
„Weißt du, Max, für mich ist es selbstverständlich, dass ein Mann sich bei den Arbeiten im Haushalt beteiligt und nicht alles nur seiner Frau überlässt.“
„Du meinst, das wäre also völlig in Ordnung, wenn ich ab und zu einfach mit anpacke, auch wenn Beate nichts sagt, einfach so?“
„Aber natürlich. Du kannst ruhig mal den Staubsauger in die Hand nehmen, den Tisch decken oder die Spülmaschine ausräumen. Frauen lieben Überraschungen. Weißt du, Max, es liegt oft an Kleinigkeiten, die den Ehealltag farbiger machen können.“
Sie müssen wieder zurück ins Büro, und Schmidlin wirkt jetzt sichtbar gelöster. Wenn Theo Bürgle anderen gute Ratschläge geben kann, ist er mit sich zufrieden und erklärt im Fahrstuhl weiter: „Du kannst ja mal die Wäsche aufhängen, die Fenster putzen und die Vortreppe wischen, auch wenn die Nachbarin verwundert guckt. Wenn du zum Altglascontainer fährst oder die Kinder von der Schule abholt und mit ihnen vielleicht Blinde Kuh spielst, das ist völlig in Ordnung.“
Einige Zeit später, Bürgle hat das Gespräch bereits vergessen, ruft Schmidlins Beate an und beschwert sich über seine gut gemeinten Ratschläge. Ob er nur die entfernteste Ahnung von einem Haushalt mit zwei Kindern habe, und ob er wirklich ernsthaft glaube, dass Max sich als Hausmann eigne?
Bürgle selbst ist ja Junggeselle, hat keine Kinder, isst meistens außer Haus und leistet sich eine Putzfrau.

Vom Wein und der Wahrheit

Es ist ein später Nachmittag, an einem Freitag, und wir befinden uns im Verkaufsraum des Winzervereins. Schwere Balken an den Decken, altehrwürdige Mauern und Bögen, Rudimente aus Klosterzeiten, alles erst in den letzten Jahren wieder restauriert, frisch verputzt und gestrichen. Die Weinpräsentation ist nicht überladen, an der Theke darf man Wein verkosten, der Keller lädt zum Suchen, Finden und Verweilen ein.
Willi Armbruster, der bewährte Gästeführer, hat eine kleine Gruppe von Landfrauen aus Ochsenhausen empfangen, sie herzlich begrüßt und ihnen versprochen, die Kultur des Weines in schlüssiger wie auch die Weinsorten in flüssiger Form nahezubringen. Kellermeister Anton Säumle ist voll des Lobes, wie souverän der Armbruster Willi das immer wieder gestaltet.
Susi Vögele-Berg, die Verkaufsleiterin, hat einige Flaschen entkorkt, Gläser bereitgestellt und schenkt schon einmal ein. Man wird sehen, was den Damen schmeckt. Dazu gibt es Brezeln und belegte Brötchen.
Der Willi hat die Damen bereits in Augenschein genommen, alles reife Mädchen, wenn er das mal sagen darf, und der Willi darf das sagen, denn er meint es nicht geringschätzig. Im Gegenteil, er hat Erfahrung, weiß was die Frauen wollen; mal ein paar Stunden Spaß, etwas verschnaufen, nur nicht so viel Ernstes, das haben sie daheim.
Nach dem ersten Anstoßen mit einem Müller-Thurgau sagt man „Du“ zueinander. Alle haben kurz etwas von sich erzählt, und der Willi stellt jetzt die Weine vor, die hier angebaut werden. Und es sind einige, darunter ein Gutedel, ein Grauburgunder und ein Spätburgunder. Willi erklärt, woher die Sorten kommen, sagt etwas über die Süße und die Säure. Die Mädels wollen alles gar nicht so genau wissen. Es ist auch zu viel, was sie hören, von der Neuzüchtung, die Kerner heißt, und vom Muskateller, einer Rebe, die schon Noah mit in die Arche genommen und nach der Sintflut wieder angepflanzt haben soll. Die Frauen von Ochsenhausen nicken höflich und wissen gar nicht mehr, welche Sorten sie schon probiert haben, bekommen rote Bäckchen, eine hitzige Stirn und müssen viel schnattern.
Jetzt ist es an der Zeit, etwas von der Klostergeschichte zu erzählen, und der Willi fragt in die Runde: „Wisst ihr eigentlich, dass sich hier eine große Liebesgeschichte abgespielt hat, genau wo ihr jetzt steht?“ Er macht eine Pause und schaut hinüber, wo die Susi hinter dem Tresen leicht errötet. Sie hat hier vor ein paar Monaten ihren jetzigen Verlobten kennengelernt.
„Es war ein Schicksal, das auch in die Klostergeschichte eingegangen ist.“ Jetzt ist die Susi wieder erleichtert, sie ist demnach nicht gemeint.
„Rudibert, der damalige Kellermeister des Klosters, verliebte sich in Gunhilde, eine Tochter aus dem schwäbischen Geschlecht der Grafen von Gammertingen. Es war schon Spätsommer, ein schöner Tag, so schreibt der Chronist, als Graf Beowulf von Gammertingen dem Kloster einen Besuch abstattete. Er brachte auch seine Tochter mit, die sich aber nur im Klosterhof aufhalten durfte, wo alle bewirtet wurden. Aber wenn zwei Menschen sich finden, sich zueinander hingezogen fühlen, gell, dann kann es auch in einem Klosterhof passieren.“
„Willi, du kannst so schön erzählen“, seufzt die Paula.
„Als Rudibert, der als Mundschenk diente, Gunhilde zum ersten Mal sah, ihr den Becher mit Wein reichte, war er wie vom Blitz getroffen. Ich muss auch hier wieder den Chronisten bemühen, denn schöner könnte auch ich es nicht sagen: Auch Gunhilde errötete beim Anblick des schönen, starken Mannes, ihr Blick senkte sich artig und, als sie den Becher entgegennahm, zitterte ihre Hand so heftig, dass sich ein Teil des Weines in ihren Schoß ergoss.“
„Was gab es doch früher für begnadete Erzähler“, begeistert sich Elvira, rieslingtrunken.
Willi Armbruster hat anscheinend das richtige Thema getroffen. Er erzählt den Mädels noch ausführlich und mit viel Fantasie, wie die Liebenden sich noch einige Male heimlich trafen, aber keine Zukunft miteinander fanden. Es war eine verhängnisvolle Liebe, das kann man sich denken, ein Klosterbruder und eine angehende Gräfin, die ohnehin schon versprochen war.
„Dass man den Mann nicht bekommen kann, den man eigentlich will, das kenne ich“, sagt die Elfriede. Sie schaut wehmütig in ihren Riesling, als ob dieser sie trösten könnte. Die Paula streicht ihr verständnisvoll über den Rücken: „Oh, Elfriede, ich verstehe dich nur zu gut.“ Die anderen stehen betroffen daneben. Jetzt merkt auch die Susi, dass die Stimmung kippt. „Darf ich noch einmal nachschenken? Wir haben auch noch belegte…“
„Brötchen, da nehme ich doch gerne eins.“ Wie auf ein Stichwort beim Theater taucht Pater Ambrosius unerwartet an der Theke auf und greift zu.
„Was sagen Sie denn zu der unglücklichen Liebschaft, Pater?“ will die Gerlinde wissen.
„Ich habe nichts von einer unglücklichen Liebe erfahren.“ Dem Pater wird auch ein Glas angeboten, die Sorte ist der Susi bekannt.
„Gell, Sie wollen darüber nicht reden, sie unterliegen ja dem Schweigegelübde.“
„Sonst würde ich nie mehr zum Beichten gehen“, erklärt die Josefa und bekommt dabei einen hochroten Kopf.
Jetzt schaltet sich Willi Armbruster ins Gespräch ein: „Was soll denn der Quatsch mit der Schweigepflicht? Dass der Kellermeister eine Liebschaft hatte, das war doch allgemein bekannt.“
„Aber für mich wäre doch wichtig, was Pater Ambrosius darüber denkt. Muss man in der Liebe nicht auch verzichten?“ möchte Elfriede wissen.
Pater Ambrosius nimmt noch einen kräftigen Schluck und wie zufällig schaut er der Elfriede ins Dekolleté: „Wir sind alle Sünder, Elfriede, und dürfen über andere kein Urteil sprechen. Wenn der Anton Säumle gesündigt hat, wird er sich allein vor dem Allmächtigen verantworten müssen.“
Seitdem macht Willi Armbruster einen weiten Bogen um den Winzerkeller.

Das Unauffällige an Semper

Semper ist für Filmproduktionen tätig, allerdings nicht hauptberuflich.
Er hatte sich mit Bild und einer kurzen Beschreibung seiner Person bei einer Casting-Agentur beworben, die Statisten suchte. Sempers Bewerbung wurde berücksichtigt und von Frau Häfele, einer Mitarbeiterin der Agentur, zu den anderen Aspiranten in die Besetzungs-Mappe gelegt. Seitdem steht Semper für kleinere oder größere Rollen zur Verfügung. Bisher waren es nur kleinere.
Wenn Frau Häfele von der Komparsen- und Statistenvermittlung anruft, dann weiß Semper genau, warum sie gerade ihn will, weil er sich vor der Kamera nicht in den Vordergrund drängt. Er ist sich bewusst, wie empfindlich Schauspieler und vor allem Schauspielerinnen reagieren, wenn man ihren Platz einnehmen will. Semper stand ja auch schon fürs Bauerntheater auf der Bühne. Und wenn er sich am Schluss verbeugte, konnte er reichlichen Applaus entgegennehmen.
Schauspielerfahrung sammelte er auch, als er unter der Regie von Betti Hasenpfot den Boten in Eichendorffs Komödie „Die Freier“ spielte. Freilichtbühne, schon an sich keine einfache Geschichte! Semper spielt also den Boten an der Seite von Hans-Heinrich Hempel, einem sensiblen Theaterschaffenden, zwar ein ganz feiner Mensch und gewissenhafter Vertreter seiner Zunft, keine Frage, aber empfindlich wie eine Diva. Als ob die Launen der Hasenpfot nicht schon genügten. Die Proben finden unter freiem Himmel statt, wo sonst? Bodenseeschwüle schon am Vormittag, kleine Missfallensäußerungen der Hasenpfot, eine bleierne Wand bildet sich im Westen, aufziehendes Gewitter, deswegen jetzt umso mehr nervöses Agieren auf und hinter der Bühne. Hempel wird nicht so zugespielt, wie er es verlangt, eine junge Schauspielerin am Heulen, Cornelius Schleitheimer aus München – auch eine Hauptrolle – nur noch am Fluchen, dann Platzregen und Abbruch. Hempel sucht ein trockenes Plätzchen, und die Hasenpfot sucht ihre Herztropfen. Und mittendrin versucht Semper nicht aufzufallen.
Jetzt beim Film, der wieder seine eigenen Gesetze hat, aber nicht weniger empfindliche Leute. Alles Künstler, aber auch Leute vom Fach! Darum ist sich Semper sicher, wenn er sich nicht immer so anspruchslos im Hintergrund gehalten und so unauffällig agiert hätte, einer von diesen Filmschaffenden wäre bestimmt auf ihn aufmerksam geworden.
Semper hatte schon viele Ideen, um seine Rollen besser anzulegen. Als er sich später in „Ein Gauner Gottes“ als Mönch wiedersah, war er nicht unzufrieden, aber ein Hauch mehr Ruhe hätte seiner Rolle gutgetan. Oder als er sich wirklich bemühte, einen glaubwürdigen Hofbesitzer in „Schwabenkinder“ darzustellen, wäre ein bisschen mehr Freiraum zum „Schauspiel“ für ihn wünschenswert gewesen. Semper wusste um sein Talent, spürte damals auch seine natürliche Begabung, die Tragik des Lebens darzustellen. Aber wie immer hatte er sich zugunsten anderer Darsteller zurückgenommen.
Jetzt hat Frau Häfele wieder angerufen. Sie brauchen einen älteren Herrn, der im Supermarkt einkauft. Ob Semper Zeit hätte? Wenn man ihn braucht, will er selbstverständlich den anderen Schauspielern zur Seite stehen. Bis zu den Aufnahmen möchte er aber noch einmal alle Eventualitäten vor Ort durchspielen und deshalb seine Frau beim Einkaufen begleiten. Und erst, wenn ihm seine Frau bestätigen kann, dass keiner ihn im Supermarkt wahrgenommen hat, ist Semper zufrieden. Das ist es ja, was ihn als Statist auszeichnet, und was die Frau Häfele so an ihm mag: seine Unauffälligkeit.

Vom Schreiben und vom Lesen

Ein richtiger Schriftsteller sollte sammeln und beobachten und anderen zuhören können und alles aufschreiben.
Schon beim Schreiben kann es sein, dass die Erzählung ihre eigene Entfaltung wünscht und dann – auf wunderbare Weise – sich selbst ein gutes Ende sucht.
Es gibt so viel zu berichten: Vom Guten wie vom Schlimmen, von der Zufriedenheit wie von der Verbitterung, vom Bedauern, wie die Menschen sind, und von der Freude, wie die Menschen sind.
Aber die richtigen Worte zu finden, die niemanden verletzen, Sätze zu bilden, die zum Weiterlesen verführen, das ist schwer. Wer sich scheut, der Fantasie einen großen Raum zu geben, und den Humor nur mit Ängstlichkeit gebraucht, sollte nicht schreiben, vor allen Dingen keine Geschichten.
Der Leser darf ruhig ein großes Herz haben und Verständnis für Übertreibungen und den erb-eigenen Humor des Verfassers. Er mag das Derbe mit dem Feinfühligen vermengen, und so wird – gut abgewogen – dem allzu Groben die Schärfe und dem Zarten die sentimentale Süße genommen.
Wer wirklich erzählen will, braucht seine Geschichten nicht immer zu beenden. Es genügt, wenn viele Leser sie mit ihrer Fantasie erfreut weiterführen und eine wundervolle Reise antreten. So werden sich alle am Ende dort wiederfinden, wo alles begonnen hat – beim Erzähler.

Herr Schneider räumt auf

Unter den Prominenten von Kunst und Kultur hat ein großes Aufräumen begonnen. Es vergeht kein Tag, und das seit Wochen, an dem wir nicht erfahren, welcher Freischaffende sich in seiner Wohnung nicht mehr wohl fühlt, weil er auf einmal eine Unordnung bemerkt hat.
Dabei, so wird uns berichtet, sei ein bekannter Musiker schon zufrieden gewesen, endlich einmal seine alte Plattensammlung und sein Bücherregal neu zu ordnen, während andere ein generelles Ausmisten und Renovieren für nötig fanden, wobei nicht selten auch Angehörige der Familie vorübergehend eine neue Bleibe suchen mussten. Wenn wir die überraschende Nachricht erhalten, dass ein Bühnenstar monatelang gekramt und geputzt hat, darf man sich die Frage stellen, in welchem Zustand sich seine Wohnung vor diesen 4 Monaten befunden hat.
Nicht wenige nahmen diese „Heimsuchung“ wörtlich und entdeckten etwas, das sie gar nicht suchen und finden wollten. Denn bei all diesem Kramen kamen Dinge ans Licht, die sie sehr berührten. Kreative Menschen, das wissen wir, haben ein empfindsames Inneres, und wenn wehmütige Erinnerungen an ihrer Seele nagen, kann es für ihr Schaffen fatale Folgen haben. Mit einem willigen Ohr vernehmen wir diesen Trübsinn in ihren Liedern, und es tut auch uns weh.
Der bekannte Unterhaltungskünstler Helge Schneider fand beim Entrümpeln seiner Abstellkammer einen großen Karton, in dem sich neben Brillen, Perücken, diversen Kappen und Hüten auch das Katzenklo befand, das er einmal besungen hatte. Als er dieses Klo nach so langer Zeit wieder in den Händen hielt, berichtete er einem bedeutenden Boulevard-Blatt, hätte er geheult wie ein kleines Kind. „Wie kann ich nur so unordentlich sein, ich habe doch mit „Katzenklo“ so viel Erfolg gehabt.“
Es ist erschütternd, äußerte sich auch Matthias Reim, wie mich alte Zeilen wieder aufwühlen konnten. Jahrelang hatten Texte von früheren Liebschaften in einem alten Leitz-Ordner ihre Ruhe, und er endlich seinen Frieden gefunden. Jetzt, nachdem er sein Leben wieder neu strukturiert hatte, wollte er – nach langem Aufschieben – auch seine Unterlagen neu sichten. Und dann starrte er wie gebannt auf dieses Blatt, das er nach so vielen Jahren wieder in seiner Hand hielt. Was darauf stand, wollte er doch vergessen: „Verdammt, ich lieb dich.“ Er erinnerte sich noch genau. Es war der 23. November und über dem Bodensee lag eine dicke Nebeldecke. Die Sehnsucht nach Wärme und Liebe war nur verständlich. Und kaum eine Woche später: „Ich lieb dich nicht.“ Verdammt, er brauchte doch diese Frau. Warum schrieb er dann damals „Ich brauch dich nicht“? Und jetzt denkt er wieder nur an sie. Matthias Reim setzt sich an seinen Schreibtisch. Er ist sich in diesem Augenblick nicht mehr so sicher, ob das mit dem Aufräumen eine gute Idee war. Ich brauch das doch, verdammt nochmal, nicht machen!
So fand Jürgen Drews in einem ausgemusterten Koffer eine alte Wolldecke, die er lange nachdenklich betrachtete. Als er jung, und es Sommer war, brauchte er kein Bett, nur diese Decke. Er fand sein Bett im Kornfeld. Mehr brauchte er damals nicht. An das Mädchen erinnerte er sich, das mit dem Fahrrad vorbeikam und ihn bedauerte, weil er kein richtiges Bett besaß. Da hatte er lachend seine Gitarre genommen und ihr von seinem Leben erzählt und den Betten im Kornfeld, die überall frei sind, und den Blumen und… Das Mädchen dachte, da ist doch nichts dabei, wenn ich bleibe, und blieb noch bis man den Sternenhimmel sehen konnte. Später träumten sie, das Heu duftete, und dann sangen auch noch die Grillen.
Ja, so war’s – oder so ähnlich!

Wie man sich bettet

Ja, es gibt sie doch noch, diese Werbesendungen ohne Filmaufnahmen einer grandiosen Wüstenlandschaft, auf dessen staubiger Straße sich ein deutscher Mittelklassewagen sein Ziel sucht. Es gibt eine Werbung ohne Frauen, die um die Welt fliegen müssen, um ihren Haarfestiger zu testen, und ohne gestählte Sportler mit widerborstigem Barthaar, denen man beim Rasieren zuschauen und sich mit ihnen freuen kann, weil sie endlich die richtige Klinge gefunden haben. Nein, es geht auch ganz bescheiden.
Da liegen zwei junge Männer auf ihren Matratzen, die sie offensichtlich neu erworben haben. Sie wahren den gebotenen Abstand, jeder liegt auf seiner Matratze und ist anständig bekleidet. Die Werbeleute haben von vornherein alle Mutmaßungen ausgeschaltet. Ein Schlafzimmer würde hier nur ablenken, ebenso ein Spannbettbezug, ein Kopfkissen oder eine Bettdecke. Die Koryphäen der Werbung verzichteten auch auf zwei Bettgestelle, um den Konsumenten nicht zu irritieren. Die jungen Männer selbst erwecken auch nicht den Eindruck, als ob ihnen etwas fehlen würde.
Und doch, es scheint als wären ihnen im Augenblick die großen Fragen des Lebens ausgegangen, die es unter Männern zu erörtern gilt. Jetzt haben sie offensichtlich den Wunsch, über ihre neuen Anschaffungen zu sprechen, auf denen sie gerade liegen.
Dem rechten Matratzenbesitzer (links vom Zuschauer) scheint es ein Bedürfnis zu sein, dem linken Matratzenbesitzer mitzuteilen, dass er eine Matratze erworben habe, die ein Vermögen gekostet hat, aber deren Qualität den doch hohen Kaufpreis rechtfertige. Eben ein Vermögen!
Das hört man ja immer wieder von jungen Leuten, die aus ihrem finanziellen Dilemma nicht mehr herauskommen, weil sie sich eine neue Matratze angeschafft haben. Sie liegen jetzt hervorragend, können aber wegen der Schulden nicht mehr schlafen.
Jetzt erfährt man vom Mann auf der linken Matratze Erstaunliches: „Nur 199 Euro“, erklärt er und tippt mit dem Finger lächelnd auf seine Errungenschaft. „Dies ist eine der meistgekauften Matratzen.“
„Ne, ne, ne“, kann der Rechtsliegende nur ungläubig einwenden und streicht mit seiner Hand verlegen über sein Unterbett. Und der Linksliegende erwidert: „Doch!“
Das ist eine grundehrliche Werbung, wie sie sein soll, und die mit einer unmissverständlichen Botschaft daherkommt: Die jungen Leute müssen auf erschwingliche Matratzen aufmerksam gemacht werden, damit sie sich auch noch ein richtiges Bett mit allem, was dazu gehört, leisten können.

Unter der Decke

Seit geraumer Zeit hat Ganter ein ungutes Gefühl. Es hat sich ein Misstrauen seiner Frau gegenüber entwickelt, das er vorher so nie kannte. Dieses Unwohlsein bringt Ganter in Verbindung mit den Kursen, die Dorothee besucht, und bei denen in der Einladung steht: „Bitte bringen Sie eine Wolldecke mit.“
Wozu braucht seine Dorothee eine Wolldecke, wenn sie zu anderen Leuten geht? Und was machen die zusammen auf der Decke? Oder unter der Decke? Wie sang dieser Gunter Gabriel? „Komm unter meine Decke und dann mach es dir bequem.“ Achtete Ganter nicht immer darauf, dass es seine Dorothee behaglich hat? Hat er sie so vernachlässigt, dass sie jetzt unter dem Vorwand, einen Kurs zu besuchen, abends aus dem Haus geht und Männer trifft, bei denen sie es gemütlicher findet? Was mögen das für Typen sein, die nicht einmal eine eigene Decke haben? Oder hängt das immer noch mit dem heftigen Disput zusammen, der sich bei der Anschaffung der neuen Couch entwickelte, bei der Dorothee ihm unterstellte, kein Gespür für bequeme Sitzmöbel zu haben?
Das Klingeln des Telefons unterbricht Ganters sorgenvolle Gedanken. Es ist Dorothee. Aha, jetzt hat sie doch ein schlechtes Gewissen!
„Ich bin noch bei Bea, der Kurs ist ausgefallen. Ich habe ihr gerade erzählt, wie behaglich wir es doch zu Hause haben.“

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