zuerst herzlichen Dank für Deinen Brief. Ja, in unserer modernen Zeit, in der man ununterbrochen telefoniert, faxt oder Nachrichten via Computer abruft, stehen wir beide mit unserem Briefeschreiben ganz schön altmodisch da. Doch Du hast mir ein Geheimnis anvertraut, das mich sehr gefreut hat. Durch meine Briefe, schreibst Du mir, wirst Du wieder an eine Zeit erinnert, in der Du noch Liebesbriefe erhalten hast. Ich kann mir vorstellen, dass sich nicht wenige Verehrer wegen Dir die Finger wund geschrieben haben. Heute bleibt den Liebenden oft gar keine Zeit mehr, ihre tiefen Gefühle auf rosarotem Papier zu versenden, da sie gleich eine gemeinsame Wohnung einrichten.
Ja, Tante Annemie, so versuchte ich auch etwas von Romantik in den Statistikdaten vom reichenauer Standesamt zu finden. Du wirst es sicher ahnen, es war vergeblich. Aber daran ist meiner Meinung nach nur der alte Leitz schuld, in dessen Ordnern jetzt alles bürokratisch-pflichtbewusst eingeklemmt wird. Der gemeine Bürger wird verwaltet und gelocht und befindet sich anschließend mit seinem Anliegen in der Klemme.
Nun wurde der reichenauer Bevölkerung bekanntgegeben, dass im vergangenen Jahr 37 Paare geheiratet haben. Die Gründe wurden nicht aufgeführt. Offensichtlich waren aber alle vorher schon verlobt, 78 Prozent sogar ledig, während bei 22 Prozent eine Vorehe registriert werden konnte. Die meisten Ehefrauen entschieden sich, den Nachnamen des Mannes zu tragen. Fehlerhaft zeigt sich die Statistik aber dort, wo nicht klar ersichtlich hervorgeht, wie viele Männer in Mischehen, die jetzt den Nachnamen der Ehefrau tragen, vorher ihren Wohnsitz außerhalb der Gemeinde hatten, und welcher Partner zwar nicht verheiratet, aber unter einer getrennten Namensführung in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit einem Partner zusammenlebte, der früher schon einmal auf der Reichenau wohnte, aber noch nie verlobt war.
So kann ich Dir auch nicht schreiben, ob die Nachfahren aus dem alten Fischergeschlecht der Keller etwa jetzt als Eheleute Hinerwadel weiterleben wollen. Auch die Olga, die Tochter von der Bichler Senzi, hat einen Mann geheiratet, von dem man nicht genau weiß, wo er herkommt. Beim Einkaufen hat jemand gesagt, es könne ein richtiger Ausländer sein, vielleicht käme er aber auch nur aus der Schweiz.
Du siehst, Tante Annemie, auch im Computerzeitalter weiß man nicht immer alles genau. Schon deshalb freuen wir uns hie und da wieder auf ein Schwätzchen, um dabei zu erfahren, welches Pärchen bald wieder heiraten wird – und wieso. Und das noch viel genauer als die Statistik!
Liebe Tante Annemie, jetzt stelle ich mir vor, wie Du dasitzt und die Briefe aus Deiner Jugendzeit auf dem Schoß ausgebreitet hast. Wenn Du sie liest, sollst Du dabei von vielen schönen Erinnerungen umarmt werden.
Das wünscht Dir Dein Neffe Dieter
Veröffentlicht 1996
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