sicher hast Du Dich für die kommenden Festtage schon rechtzeitig und in aller Ruhe vorbereitet. Das Besorgen in letzter Minute, ich weiß, das konntest Du schon früher nicht leiden. Jetzt muss ich wieder oft an Deine herrlich geschmückten Christbäume denken, an Deine unendliche Geduld, mit der Du die Zweige mit vielen selbstgebastelten Dingen verziert hast. Aber glaub mir, Tante Annemie, mit einem der Bäume, die wir dieses Jahr von der Gemeinde zum Weihnachtsfest bekommen haben, könnte sogar Deine Geduld ihre Grenzen zeigen.
Vielleicht kannst Du Dich noch daran erinnern? So etwa eineinhalb Wochen vor dem Heiligen Abend werden die kommunalen Nadelgewächse neben dem Rathaus und die Bevölkerung hinter einem Schlagbaum aufgestellt. Tante Annemie, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was sich da abspielt, wenn Punkt 13.30 Uhr die Sperre geöffnet wird. Da gilt es standfest zu sein, wenn so viele Insulaner auf diesem großen Weihnachtsbaum-Wühltisch mit der Auslese beginnen. Zu dieser Aktion werden Familienangehörige abgesandt, die Erfahrung und ein geschultes Auge mitbringen und außerdem zupacken können. Doch selbst solch erfahrene Leute sah ich mit tiefer Unentschlossenheit vor dem diesjährigen Angebot stehen. Als ich meinen Baum fand, anscheinend wollte ihn kein anderer, da habe ich ihn ganz fest an mich gedrückt, weißt Du Tante Annemie, so wie ein verwachsenes Kind, das ja nichts dafürkann, und das man trotzdem liebhat. Besonders an Weihnachten!
Sehr früh anstehen musste man in der Vorweihnachtszeit auch wieder für Karten der Winterkonzerte des Unterhaltungsorchesters im Januar. Das heißt, wenn man den Termin nicht verschlafen hat so wie ich.
Auf dem Weihnachtsmarkt im Klosterhof habe ich Axel getroffen. Er macht sich ja sehr stark für den Fremdenverkehr auf der Reichenau. Ich schicke Dir die Werbe-Broschüre „Urlaub machen im eigenen Land“ mit, die er erarbeitet hat. In den Weihnachtsferien fliegt er ja jetzt mit seiner Familie in die Karibik.
Eine Edeltanne, Konzertkarten, Karibik, was soll’s. Wird dadurch das Fest festlicher? Ich glaube nicht.
Eine feierliche und besinnliche Zeit wünscht Dir
Dein Neffe Dieter
Veröffentlicht 1995
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