Vor kirchlichen Inselfeiertagen wird Lambert von Erinnerungen heimgesucht, bei denen er fast melancholisch wird.
Jetzt steht wieder so ein Fest an. Lambert schließt die Augen und sieht sich als Ministrant mit Anton Schniebel, seinem Schulkameraden, in der Sakristei des Münsters stehen. Der Schniebel ist damals Oberministrant gewesen.
Ein Obermessdiener weiß, wo der Messwein steht. Das allein genügt aber nicht, er muss sich auch zutrauen, die Flasche mit dem Rotwein aus dem Schrank zu nehmen, notfalls eine neue zu entkorken, um sie dann herumzureichen, damit jeder einen Schluck nehmen kann. Es bleibt nicht viel Zeit, der Pfarrer kann jeden Moment kommen, und dann ist auch schon der Mesmer fertig mit dem Anzünden der Altarkerzen.
Ein Schlückchen Rotwein ist für einen Ministranten sicher nicht verkehrt, um einen Gottesdienst einzuläuten. So ein Hochamt kann sich hinziehen, zumal die Gastprediger offensichtlich eine große Freude daran haben, sich ausgiebig am Feiertag zu beteiligen und eine lange Ansprache für angemessen halten. Da muss auch ein Ministrant wissen, worin seine Aufgabe besteht.
Also der Schniebel war damals Oberministrant mit dem ungeschriebenen Gesetz, wenn einer das Rauchfass schwingt, dann der Oberministrant. Er muss sich auskennen. Das kann nicht jeder Hansel machen. Da muss man auch mit dem, der den Weihrauch trägt und die Kohlen zum Glühen bringt, eng zusammenarbeiten. Das ist Vertrauenssache. Das ist wie im Geschäftsleben. Wer die Kohle hat, der kann mitreden.
Der mit der Kohle, das bin ich gewesen, denkt Lambert und sieht sich wieder in dieser verantwortungsvollen Aufgabe. Einiges ist abzusprechen. Wie viel soll man feuern? Wie viel soll man auflegen? Wie viel Luft darf man zuführen? Kann man dem alten Weihrauchkessel noch etwas zumuten? Halten alle Lötstellen? Aber die wichtigste Frage überhaupt ist doch: Zu welchem Zeitpunkt ist die Wirkung beim Publikum am größten? Da macht sich eben die langjährige Erfahrung bezahlt, die ein Messdiener bei den vielen Inselfeiertagen auf der Reichenau gemacht hat.
Der Schniebel ist erfahren in der Handhabung eines Rauchfasses und geboren für Rituale in einem Hochamt.
Er kommt am Morgen des Inselfeiertags zu Ehren des Heiligen Markus, des Inselpatrons, rechtzeitig in die Sakristei, nimmt noch einen Schluck Rotwein und zieht sich an. Dann nimmt er das Weihrauchgefäß vom Haken, prüft noch einmal die Sicherheit, indem er das noch leere Fass kräftig zum Schwingen bringt und sagt dann fast feierlich: „Jetzt wollen wir mal dem Fest das richtige Aroma geben.“
Da weiß auch Lambert, was zu tun ist. In das Rauchfass wird eine Kohle gelegt. Eine kleine, runde Scheibe, die vorher auf einem speziellen Gerät zum Glühen gebracht worden ist. Normalerweise wird in das Rauchfass eine Kohle reingelegt. Eine. Normalerweise. Der Schniebel sagt: „Der Bischoff ist da, also machen wir es heute ein bisschen feierlicher“. Er zieht den Deckel des Rauchfasses hoch und lässt sich von Lambert drei Kohlen auflegen.
Lambert trägt das Weihrauchschiffchen, ein edel gearbeitetes Gefäß mit Klappdeckel und einem silbernen Löffel, in dem sich die Harzkörner für das Räucherwerk befinden. Es ist gut gefüllt. Normalerweise genügen fürs Erste zwei Löffelchen von diesem Duftharz. Normalerweise. Der Schniebel kann rechnen und meint: „Wir haben drei Kohlen – da brauchen wir sechs Löffel.“
Als alle zum Altar schreiten, beginnt der Schniebel mit dem Schwingen. Jetzt fangen die Kohlen an aufzuglühen. Aus dem Fass hört man ein Knacken. Die Harzkörner schmelzen. Wenn der Schniebel von Aroma gesprochen hat, dann hat er nicht übertrieben. Es dauert nur eine knappe Minute, und alle stehen in einer prächtigen, weißen Wolke, die kurz verweilt und dann auf die ersten Bankreihen zu schwebt. Sie bringen Weihrauch und Myrrhe, heißt es bei den Heiligen Drei Königen.
Und der Schniebel versteht etwas vom Weihrauch Verteilen. In den ersten Bankreihen haben die Gläubigen Tränen in den Augen. Selbst erfahrene Ministranten melden kurzfristig Hochwasser. Den Neuen wird es schlecht, aber wie.
Es ist köstlich. Es ist hervorragend. Der Schniebel kann wirklich einem Hochamt die gebotene Würze geben. Da kann sich auch der heilige Markus nicht beklagen.
Der Bischoff hat sich nachher so geäußert: Er habe bei seinen Predigten noch nie so ergriffene Zuhörer gesehen wie auf der Insel Reichenau. Manche hätten sogar geweint.
Allein diese Äußerung hat den Münstermesmer damals wieder einmal davon abgehalten, den Schniebel und Lambert zu ohrfeigen. Sie haben es als Lob genommen.
Aber wie im richtigen Leben! Wenn man viel Kohle hat, muss man halt manchmal Dampf ablassen. Das gefällt nicht jedem.
Ja, so war’s.
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