Ganter hatte Emanuel Spitznagel seit Jahren nicht mehr gesehen. Jetzt traf er ihn auf dem Weg zur Post, die jetzt Agentur heißt und sich auf der Insel in einem Gärtnercenter niedergelassen hat.
„Du siehst blühend aus“, meinte Ganter zu Spitznagel, um etwas Freundliches zu sagen, weil es draußen regnete. Spitznagel ist Schriftsteller. Mitglieder dieser Berufsgruppe können bei Regenwetter leicht melancholisch werden, allerdings auch bei Nebel, Föhn oder anhaltender Trockenheit.
„Du wirst es nicht glauben“, sagte Spitznagel, „ich werde 75.“
„Ich kann es nicht glauben“, erwiderte Ganter.
„Ja, nächsten Monat.“
„Nächsten Monat schon?“
„Am Dreizehnten, aber ich möchte keine Aufregung um meine Person haben.“
„Aber du wirst doch feiern?“ fragte Ganter.
„Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass ein paar Leute vorbeikommen, die es erfahren haben.“
„Ich hätte es auch nicht gewusst“, sagte Ganter.
„Ich habe veranlasst, dass eine kleine Notiz im Reichenauer Amtsblatt erscheint.“
„Das war eine gute Idee von dir“, meinte Ganter.
„Und dem Bürgermeister habe ich es höflicherweise persönlich mitgeteilt.“
„Du hast es dem Bürgermeister gesagt?“ fragte Ganter ungläubig.
„Es musste sein“, meinte Spitznagel und betrachtete in Gedanken einen Rasenmäher.
Darauf hatte Ackermann, der Geschäftsführer des Gärtnercenters, anscheinend gewartet, denn er kam mit pressantem Schritt auf Spitznagel zu.
„Ich sehe, Sie interessieren sich für unsere Rasenmäher“, meinte er geschäftstüchtig. „Über die Preise kann man natürlich noch reden.“
„Wir stehen nur zufällig hier“, erklärte Ganter.
„Ich sehe schon“, sagte Ackermann zu Spitznagel, „Sie haben unseren Gonzo im Auge. Eine gute Wahl. Ein Mäher mit 43,8 cm Schnittbreite und integriertem Mulchblech vor dem Auffangsack. Wenn Sie ihn selber mitnehmen, könnte ich Ihnen einen Nachlass von 19 Prozent anbieten.“
Spitznagel versicherte ihm, das wäre ein gutes Angebot, aber er brauche keinen Gonzo mit Mulchblech. Er wäre nur auf dem Weg zur Post und hätte sich bei den Beetpflanzen verlaufen, denn das könne in seinem Alter schon einmal vorkommen, dass man in Gedanken sei, er werde ja jetzt schon 75, nächsten Monat am Dreizehnten, obwohl ihm das keiner glauben wolle.
Ackermann meinte daraufhin, das könne auch er nicht glauben. „Aber Sie haben immer noch ein sicheres Gespür für gute Rasenmäher.“ Und er verschwand.
„Siehst du“, sagte Spitznagel, „wem ich es auch erzähle, keiner kann es glauben. Selbst der Monsignore hat gestaunt.“
Ganter war sprachlos. „Du hast es sogar dem Pfarrer gesagt?“
„Bei der Osterbeichte.“
„Darf man so etwas – beim Beichten?“ fragte Ganter. „An einem Karfreitag?“
„Ich hielt es für meine Pflicht. Ich habe dafür die Verfehlungen, die die Fleischeslust betreffen, weggelassen.“
„Du hast wirklich …?“
„Ich wollte den Monsignore nicht beunruhigen.“
„Und was hat er gemeint?“
„Er sagte, dem Herrn kann man nichts vormachen.“
„Ich meine, was hat er zu deinem Geburtstag gesagt?“
„Er hat gesagt, wir werden alle nicht jünger.“
„Ja, der Monsignore ist ein gescheiter Mann.“
Spitznagel schaute hinüber zu den Geranien. „Keine Blumen!“
„Was für Blumen?“
„Falls du mir Blumen schenken willst.“
„Ach so, du magst keine Blumen?“
„Normalerweise schon. Aber ich werde nach meiner Geburtstagsfeier für ein paar Wochen nicht zu Hause sein – wegen der unteren Partie.“
„Wegen was für einer Partie?“
„Wegen meinem Kinn. Ich lasse mir eine Kleinigkeit korrigieren.“
Spitznagel packte mit beiden Händen sein Doppelkinn. „Das ist nachher alles weg.“
„Diese Korrektur, die wird bestimmt nicht billig.“
„Das kannst du aber laut sagen.“
„Das wird bestimmt teuer mit deinem Doppelkinn“, sagte Ganter so laut, dass sich alle im Gärtnercenter umdrehten.
„Nicht so laut“, flüsterte Spitznagel, „ich bin ja so froh, dass ich nicht eitel bin, sonst müsste es mehr sein.“
„Ein Glück, dass du nicht eitel bist.“
„Und wie alt bist du?“ fragte er Ganter.
„Ich bin 62 geworden“.
„62“, wiederholte Spitznagel. „Meine Güte, mit 62 da läuft noch einiges. Da ist man noch voller Tatendrang.“
Damit hatte er bei Ganter einen wunden Punkt getroffen. Aber wie! Denn das mit dem Laufen und dem Drang auf Taten, das hielt sich bei ihm alles in Grenzen, in ganz engen Grenzen. Und daran möchte er nicht erinnert werden.
„Was macht das Schreiben?“ fragte er Spitznagel, um von sich abzulenken.
Dieser hatte mit seinem Roman „Tomaten in Niederzell“ allerhand an Lob hören müssen.
Es ist eine Liebesgeschichte, die allerdings kein gutes Ende nimmt. Eine Reichenauer Fischertochter verliebt sich in einen Schwan, beide merken aber zu spät, dass ihnen eine eheähnliche Verbindung nicht beschieden sein wird.
Die Idee sei ihm gekommen, hatte Spitznagel in einem Interview erklärt, als er zum ersten Mal das Lied der Fischerin vom Bodensee hörte, in dem es heißt, dass ein weißer Schwan den Kahn der schönen Fischerin zieht. Das Lied erinnert an die stille Zeit am Untersee, wo es noch keine Außenbordmotoren gab und die großen Wasservögel sich noch nützlich machen konnten.
Die schwanverliebte, niederzeller Fischertochter reagiert auf die heftige Kritik aus der eigenen Familie, verlässt Niederzell und heiratet einen ertragreichen Gemüsebauern mit Bauplatz und eigener Erzeugernummer in Oberzell.
„Ich möchte an meinen letzten Roman anschließen“, erklärte Spitznagel. „Ich werde ihm den Titel „Gurken in Oberzell“ geben.“
„Großartig! Dir fällt doch immer etwas ein.“
„Weißt du“, ließ er Ganter wissen, „dass eine Verbindung der Familie Eichhuber in Oberzell zum Heiligen Georg besteht?“
„Was du nicht sagst!“
„Es drängt mich, diese Familiengeschichte einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.“
„Die Öffentlichkeit wäre sprachlos.“
„Ich darf auch den Drachen nicht unerwähnt lassen.“
„Du meinst den Drachen, den der Ritter Georg getötet hat?“
„Nein, ich meine den Drachen, der einmal Oberzell in Angst und Schrecken versetzt hat.“
„Aber in Oberzell gab es doch noch nie einen Drachen.“
„Das kann jeder behaupten“, meinte Spitznagel ärgerlich.
„Glaubst du nicht, dass du damit den einfachen Leser überforderst?“
„Gut, wenn du meinst, dann lasse ich den Drachen eben weg, aber die Blutsverwandtschaft der Eichhubers zum Heiligen Georg lasse ich mir nicht ausreden.“
„Wenn es der Wahrheit entspricht, dann musst du es schreiben.“
„Weißt du, wie viele Zweifel einen Schriftsteller anfallen können? Gerade auf der Reichenau? Die Leute sind nicht immer einfach.“
In diesem Moment kam Ackermann zurück.
„Herr Spitznagel, ich kann Ihnen eine erfreuliche Mitteilung machen. Ich habe die Vorstände unserer AG angerufen und alle waren sich einig, wir möchten Ihnen den Gonzo zum Geburtstag schenken.“
„Aber ich habe doch nur einen kleinen Balkon“, jammerte Spitznagel.
„Herr Spitznagel, das ist kein Problem. Den Gonzo gibt es auch mit einer Schnittbreite von 22 Zentimetern, das Mulchblech entfällt, und so hat auch der Kleingärtner ein handgerechtes Modell. Habe ich Ihnen schon gesagt, dass meine Frau ganz entzückt war von Ihrem Roman „Zucchini in Niederzell? Sie hat tagelang nur von dem armen Schwan geredet. Es war aber auch…“
Er wurde unterbrochen von dem Fräulein, das den Postschalter bedient. „Herr Spitznagel, ich habe gehört, Sie feiern bald Geburtstag. Ich habe gerade mit Herrn Scheuerle von der Oberpostdirektion in Karlsruhe gesprochen und ihm von Ihrem großen Garten erzählt. Er ist der Meinung, die Post schenkt Ihnen zu Ihrem Geburtstag zwei Spalierbäumchen.“
Spitznagel setzte sich auf einen Sack mit Hundefutter und hatte feuchte Augen. Soviel Anteilnahme hatte er nicht erwartet.
„Ja, was muss ich da hören, Herr Spitznagel? Sie haben Geburtstag?“
Es war Freifrau von Nierstein-Sanftleben, die Katzenfutter einkaufte.
„Ja, aber erst am Dreizehnten“, sagte das Fräulein von der Post.
„Herr Spitznagel freut sich schon“, erklärte Ackermann, „da bekommt er von uns den Gonzo, den er sich schon so lange gewünscht hat.
„Da werde auch ich mir mit meinen Canasta-Damen was einfallen lassen“, meinte die Sanftleben. „Sie wissen ja gar nicht, wie ergriffen ich von Ihrem „Kopfsalat in Niederzell“ war. Diese Tragödie mit dem Schwan!“
„Wie schön, dass ich Sie einmal persönlich treffe“, rief eine Frau aus Wollmatingen. „Wie ich gerade höre, haben Sie „Das Schwanenhaus“ geschrieben.“
„Nein, das war Martin Walser“, korrigierte die Nierstein-Sanftleben.
„Aber in Ihrem Roman kommt auch ein Schwan vor, gell Herr Spitznagel?“ fragte das Fräulein von der Agentur.
„Herr Spitznagel wird 75 und bekommt den Gonzo“, erklärte die Nierstein-Sanftleben.
„Ist das ein Buchpreis?“ erkundigte sich ein pensionierter Finanzbeamter und blieb mit seinem Einkaufswagen stehen.
„Herr Spitznagel kann leider das Mulchblech nicht verwenden“, sagte Ackermann.
„Dann schreiben Sie halt über etwas Anderes“, meinte die Frau aus Wollmatingen, „vielleicht wieder über eine große Liebe im russischen Winter.“
„Das war Pasternak mit Doktor Schiwago“, stöhnte Spitznagel.
Bis zur Mittagszeit war Spitznagel von etwa 200 Leuten umringt, die eigentlich nur etwas für Haus und Garten einkaufen oder zur Post wollten.
Man ließ Rasenmäher und Verkaufsgondeln wegräumen und dafür Stühle hinstellen. Die Post wurde vorübergehend geschlossen.
Spitznagel musste immer wieder von der Drachenplage in Oberzell erzählen und erläuterte die Verwandtschaftsverhältnisse der Eichhubers mit dem Heiligen Georg.
Trachtenmädchen schenkten Wein aus, die Canasta-Damen belegten Häppchen, und ein Mann von den Starlights hatte bunte Lampen aufgehängt. Zum Nachmittagstee spielte eine Seniorenband. In einer Pause sang Frau Nierstein-Sanftleben zwei Balladen.
Ackermann meinte, nun sei es aber an der Zeit, den Bürgermeister zu holen.
„Und den Monsignore auch“, sagte das Fräulein von der Post.
Das letzte was Ganter hörte – bevor er ging – war Spitznagel, der sich erhoben hatte und sichtlich gerührt sagte: „Wie Sie vielleicht erfahren haben, feiere ich nächsten Monat meinen 75. Geburtstag, genauer gesagt am Dreizehnten. Ich möchte Sie aber bitten, kein Aufsehen um meine Person zu machen.“
Vor dem Gärtner-Center regelte die Freiwillige Feuerwehr den Verkehr.
Nachtrag:
Der Arbeitskreis Kultur fordert Spitznagel-Wochen im Gärtner-Center.
Oberzell möchte, dass der Drache wieder heimisch wird.
Die Grünen fordern Versöhnungstage mit Schwänen.
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